„Du kannst mich jetzt runter lassen.“, Lianns Stimme klang ruhig und als Sadu keine Anstalten machte ihrer Bitte nachzukommen, begann sie in seinen Armen zu zappeln: „Meine Schmerzen sind fast weg ... ich kann alleine laufen.“ Sadu blieb stehen und sah sie amüsiert an: „Also gut … du hattest deine Chance.“ Umständlich stellte er sie auf die Füße und beobachtete wie sie ein paar wackelige Schritte in Richtung des Wraith machte. Sie blieb stehen und drehte sich zufrieden lächelnd zu Sadu um: „Die Schmerzen sind tatsächlich weg.“ Sadu wirkte sichtlich amüsiert: „Natürlich sind sie das. Komm … wir sind gleich da.“, er deutete auf einen dicht bewaldeten Berg vor ihnen. Liann spürte, wie ihr Unbehagen wieder deutlich zunahm. Sicher, sie freute sich darauf ihren Bruder in die Arme schließen zu können, doch der Gedanke an den Rest dieser Familie ließ neuerlich Furcht in ihr aufsteigen. Sie hatte keine Ahnung was auf sie zukommen würde und wie sie mit Jared von diesem merkwürdigen Ort entkommen konnte.
Zögernd folgte sie Sadu und dem Wraith ins Innere des Berges, immer wieder blickte sie sich in Richtung des Höhleneingangs um und als dann die Gesteinsschichten plötzlich unvermittelt in den breiten Gang eines Wraithschiffes mündeten, schrie sie erschrocken auf. Die Beiden hatten sie also doch getäuscht und nun saß sie offensichtlich in der Falle, denn Sadu ergriff augenblicklich ihren Arm und zog sie trotz Gegenwehr mit sich. Immer tiefer folgten sie den Korridoren ins Innere des riesigen Hives. „Es ist alles in Ordnung.“, Sadus Stimme klang ruhig aber bestimmt als er fort fuhr: „ Das hier ist mein Zuhause und es wird auch deines sein.“ Liann stockte der Atem und sie begann augenblicklich sich heftiger zur Wehr zusetzten. Beinahe panisch versuchte sie Sadus Griff zu lockern, sie wollte einfach weg von diesem unheimlichen Ort und seinen mindestens genauso merkwürdigen Bewohnern. Erst als ihr bewusst wurde, dass sich Jared noch immer in den Händen der Krashty befand, zwang sie sich zur Ruhe. Sobald sie ihren Bruder gefunden hatte, würde sie sich Gedanken um einen Fluchtplan machen und ihn so schnell wie möglich auch in die Tat umsetzen. Sadus leises Lachen rief sie in die Gegenwart zurück und als sie ihm kurz in die Augen sah begriff sie, dass er ihre Gedanken wohl erraten hatte.
„Hör auf in meinen Gedanken herumzuwühlen!“, sie fauchte ihn regelrecht an und Wut glitzerte in ihren grünen Augen. „Ich wühle nicht in deinen Gedanken herum. Das muss ich auch gar nicht, denn dein Wunsch zu fliehen ist dir buchstäblich ins Gesicht geschrieben.“, Sadus Stimme klang amüsiert, etwas ernster fügte er schließlich hinzu: „Gib uns doch wenigstens eine Chance. Du hättest hier ein sicheres … “ „Ein sicheres … was? Hier lebt zumindest ein Wraith und falls es dir entgangen ist … Wraith nähren sich an Menschen!“, Liann schäumte vor Wut und Frustration. Sadu seufzte: „Du hast dich doch bereits entschie … “ „Was? Wann habe ich mich denn dafür entschieden?“, die Stimme der jungen Frau bebte vor Wut. „Als du meine Illusion beeinfl ...“, doch Liann dachte gar nicht erst daran Sadu ausreden zulassen. „Oho … Du hast also entschieden, dass ich hier leben will, weil ich deine Gedankenspielchen beeinflusst habe? Was bildest du dir eigentlich ein?“, Lianns Zorn entlud sich in einem kräftigen Schlag gegen Sadus Rippen. Dieser seufzte wieder und auf seinem Gesicht begann sich ein resignierter Gesichtsausdruck abzuzeichnen: „Ich habe nichts entschie ...“ Wieder fiel ihm Liann ins Wort, während sich ihre Fingernägel in seinen Handrücken bohrten und dort tiefe rote Striemen hinterließen: „Doch, dass hast du! Du kannst mich nicht zwingen, gegen meinen Willen, an einem solchen Ort zu leben!“ Sadu blieb plötzlich stehen und knurrte leise, er ließ seine Stimme absichtlich etwas tiefer und sanfter klingen: „Wusstest du eigentlich, dass derlei Zuwendungen auf mich eine etwas andere Wirkung haben?“, mit diesen Worten sah er sie forschend an und zog beide Augenbrauen leicht nach oben. Liann ließ ihre Hand abrupt sinken und ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie begriff worauf der Krashty anspielte: „Also, dass … du … “
Das amüsierte Lachen des Wraith brachte Liann augenblicklich zum Schweigen. Auch Norrec war stehen geblieben, er hatte sich zu den Beiden herumgedreht und musterte sie nun mit unverhohlenem Spott. „Ihr werdet später noch genug Zeit finden, um diverse Zuwendungen und Höflichkeiten auszutauschen.“ Zufrieden beobachtete Norrec, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlten, denn Sadu setzte sich schweigend in Bewegung und Liann ließ sich von dem Krashty ohne weitere Gegenwehr mitziehen. Ein paar Minuten später erreichten sie endlich die Tür des Labors. Norrec blieb gut zwei Meter davor stehen, zögerlich suchte er den mentalen Kontakt zu Lenn und als diese ihm zu verstehen gab, dass sie den Schild bereits gesenkt hatte, setzte er sich ruhigen Schritts wieder in Bewegung. Mit einem kaum hörbaren Zischen öffnete sich die Tür und Liann spähte vorsichtig ins Innere des Raumes. Irgendwie hoffte sie ihren Bruder mit einem Wink zu sich rufen und dann fliehen zu können, doch da Sadu plötzlich wieder kräftig an ihrem Arm zog, blieb ihr keine andere Wahl das Labor zu betreten und sich den neugierigen Blicken seiner Familie zustellen.
„Das sind Lenn und Sihal ... meine Schwestern. Hier haben wir Otheym und Yerren … ihn dürftest du ja bereits kennen. Der bewusstlose Wraith heißt Riven und die traurige Gestalt dort in der Ecke ist mein langjähriger Freund Dayan.“, Sadu stellte Liann alle anwesenden Mitglieder seiner Familie der Reihe nach vor und beobachtete dabei interessiert ihre Reaktion. Liann wirkte beinahe ein wenig verängstigt und irgendwie schien sie etwas zu suchen. Fragend richtete er seinen Blick auf Norrec, der sich bereits der Konsolen neben Riven zugewandt hatte. Er verliert wirklich keine Zeit, dachte Sadu verwirrt, dann sandte er Lenn seine Frage auf mentalem Weg. Lenn sah ihn erstaunt an und plötzlich zeichnete sich ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen ab, Norrec hat dir also nichts von ihrem Bruder erzählt? Sadu konnte seine Irritation nur mit Mühe verbergen, Wer ist Norrec? Das Lächeln auf Lenns Gesicht gewann weiter an Kraft und zeigte deutlich ihr Amüsement, Der Wraith ... auf den du ein Auge haben solltest. Otheym hat ihm diesen Namen gegeben. Wieder warf der Krashty einen flüchtigen Blick auf den Wraith, Norrec … ich hoffe, dass Otheym niemals Kinder haben wird. Seine Vorstellung von einem passendem Namen ist grausam. Lenns amüsiertes Lächeln verschwand, um einem entrüsteten Gesichtsausdruck Platz zu machen, Norrec war der Name von Otheyms jüngerem Bruder … ich erzähle dir das alles später, jetzt haben wir andere Sorgen.
Ohne Vorwarnung zog sich Lenn aus der mentalen Verbindung zurück, gleichzeitig machte sie ein paar Schritte auf Liann zu und lächelte sie gewinnend an. „Dein Bruder liegt dort auf dem Labortisch.“, Lenn deutete vage mit ihrer linken Hand in die Richtung des betreffenden Tisches, „Er ist vor ein paar Minuten eingeschlafen. Du kannst ihn wecken … “ Liann schüttelte hastig den Kopf und trat leise neben ihren kleinen Bruder. Wieder spürte sie das verräterische Brennen in ihren Augen, doch diesmal gelang es ihr nicht die Tränen zurückzudrängen. Trotzig fuhr sie sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Augen und verschmierte so den Staub auf ihrem Gesicht weiter. Sie schluchzte leise und bot alles in allem ein Bild des Jammers. Lenn trat vorsichtig neben sie und zog sie an ihre Schulter: „Es wird alles wieder gut. Du und Jared … ihr seit hier in Sicherheit.“ Vorsichtig strich die Krashty über das schwarze Haar der jungen Frau und mit sanfter beruhigender Stimme fuhr sie fort: „Liann … du und dein Bruder … ihr seit nicht allein … “ Sadu starrte die beiden Frauen fassungslos an, Liann … Wie ein Echo hallte der Name in seinen Gedanken wieder und brachte ihn schließlich dazu Dayan einen finsteren Blick zu zuwerfen.
Sorgfältig prüfte Norrec die Vitalwerte Rivens. Den Werten zu folge, hatte sich Riven in einen winterschlafähnlichen Zustand versetzt und so die Ausbreitung des Giftes verlangsamt. Norrec knurrte anerkennend, denn um sich in einen solchen Zustand zu versetzen, bedurfte es eines starken Willens und eines Maßes an Konzentration, das Riven wohl nur mit Mühe in seinem Zustand hatte aufrecht erhalten können. Riven hatte seinen Freunden zwar etwas mehr Zeit verschafft, doch dieser Zustand barg auch Gefahren, denn ohne die stabilisierende Wirkung des Hives, konnten unter ungünstigen Umständen die Gehirnfunktionen geschädigt werden bis hin zum Tode. Riven war sich dieser Konsequenzen mit Sicherheit bewusst gewesen und doch war er das Risiko eingegangen. Ein arrogantes Lächeln umspielte kurz Norrecs Lippen, Riven hatte sein Leben also tatsächlich in seine Hände gelegt und dabei hatte er sich nicht einmal sicher sein können, dass der Zweite ihm auch wirklich helfen würde.
Mit einem leisen spöttischen Lachen konzentrierte er sich wieder auf die Konsole und die Analyse des Giftes in Rivens Körper. Sein Spott legte sich schlagartig als ihm auffiel, dass dieses Gift nicht nur eine lähmende Wirkung besaß, sondern auch systematisch die inneren Organe schädigte. Es enthielt eine Substanz, die das Gewebe aufweichen und letztendlich zersetzen würde. Norrec fluchte innerlich, bisher hatte er angenommen, dass das Gift lediglich eine lähmende Wirkung besaß und diese Insekten ihre Beute lebend fressen würden. Doch diese Erkenntnis warf ein völlig neues Licht auf das Gift und die Herstellung eines Gegenmittels. Bis vor wenigen Minuten hatte er noch vermutet, dass dieses pelzige Geschöpf irgendein Hormon oder Enzym in seinen Blut besaß, welches die Lähmung aufheben würde. Aber jetzt würde eine Analyse des Blutes und Gewebes der kleinen Kreatur nicht mehr ausreichen, sie würden zusätzlich auch noch eine Probe des Giftes benötigen.
Nachdenklich fuhr er sich mit der flachen Hand übers Kinn. Eine solche Probe zu beschaffen, kam für einen Menschen einem Todesurteil gleich und vermutlich waren sogar die Krashty für dieses Gift anfälliger als er es im Moment abschätzen konnte. Erschwerend hinzukam, dass diese Insekten normaler Weise in kleinen Gruppen von etwa drei bis fünf Tieren jagten, lediglich die Späher waren allein unterwegs und die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet auf einen solchen zu treffen, war äußerst gering. Im Stillen ging er alle einzelnen Optionen noch einmal durch und je länger er nach einer Alternative suchte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass es keine gab. Egal wie er es auch drehte und wendete, letztendlich würden sie für das Serum eine Probe des Giftes brauchen und das wiederum bedeutete, dass sich jemand in Lebensgefahr bringen musste, um diese Probe zu beschaffen. Er entschied, dass eine kleine Gruppe von zwei oder drei Mann die größte Aussicht auf Erfolg haben würde und so stellte sich jetzt nur noch die Frage wer ihn begleiten sollte.
Norrec knurrte leise, als er seinen Blick abschätzend über die anwesenden Personen schweifen ließ.
Wie von selbst suchten seine Augen als erstes nach Lenn. Er war von ihren Fähigkeiten überzeugt und nicht zuletzt würde die Enge Bindung durch das Pri'Tésh eine verbale Kommunikation völlig überflüssig machen. Mit ihr würde er als Einheit arbeiten können, doch der Umstand, dass sie sich völlig von ihm abkapselte und seine mentale Nähe sogar gänzlich zu ignorieren versuchte, würde diese Mission nur erschweren und sie nicht erleichtern. Auch sie hatte unter der Trennung gelitten, wenn auch auf eine andere Weise und das Wissen um seinen Kontrollverlust, schien ihr zusätzlich zu zusetzen. Ein leises frustriertes Knurren begleitete die Erkenntnis, dass er auf sie verzichten musste und soweit er es beurteilen konnte, traf das auch auf Sihal zu. Auch ohne telepathische Verbindung wusste er, dass die Gedanken der Krashty einzig und allein bei Riven waren. Ihr Gesicht war geradezu ein Spiegel ihrer Seele und die Furcht um Riven spiegelte sich nur allzu deutlich in ihren Zügen wieder. Sie wäre ebenso wenig in der Lage sich auf die Mission zu konzentrieren wie Lenn und somit würde sie eine Gefahr für sich selbst und auch ihn darstellen.
Leise knurrend gestand sich Norrec ein, dass er die Fähigkeiten der anderen Drei nicht so recht einschätzen konnte. Er wusste zwar, dass Sadu über ein paar äußerst subtile telepathische Fähigkeiten verfügte, aber solche Tricks würden für diese Mission irrelevant sein, denn die Insekten würden sich mit Sicherheit nicht von ein paar Illusionen täuschen lassen. Was Otheym anbelangte, war er sich sicher, dass der Junge auf sich selbst aufpassen konnte und vermutlich in schwierigen Situationen zu flexiblen Handlungen fähig war.
Über Dayan allerdings wusste er nichts und es fiel ihm schwer diesen verschlossen wirkenden Krashty einzuschätzen. Dayan war genau wie Sadu hochgewachsen und sein muskulöser Oberkörper deutete auf einen durch trainierten Körper hin. Seine Haare waren weiß und verrieten seine Herkunft weitaus stärker als die schwach ausgeprägten Wraithmerkmale in seinem Gesicht. Er hatte seine Haare im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst und lehnte augenscheinlich unbeteiligt an einer Wand in Jareds Nähe. Norrec knurrte leise als sich ihm die Frage aufdrängte, ob es Dayan egal war was hier gerade geschah oder ob er das Desinteresse lediglich heuchelte, um von seinen wahren Gedanken abzulenken. Aus Erfahrung wusste der Wraith, dass man solchen Individuen besser niemals den Rücken zukehrte, denn egal wie loyal sie auch wirkten, der Geruch des Verrats haftete an ihnen wie eine zweite Haut. Mit einem leisen abfälligen Laut wandte er sich der letzten Person zu und als sein Blick auf Yerren fiel, konnte er einen leisen Seufzer nicht unterdrücken. Dieser Hybrid war zwar stark und ausdauernd, doch eigenständiges Denken und flexibles Handeln, in einer sich verändernden Situation, gehörten nicht unbedingt zu seinen Stärken. Aber dennoch hatte er die letzte Aufgabe zufriedenstellend erfüllt und so beschloss Norrec, dass er diesen Hybriden auf jeden Fall auch bei dieser Mission dabei haben wollte. Yerren hatte sich als zuverlässig erwiesen und er würde jeden Befehl ausführen ohne ihn zu hinterfragen. Die einzige Stärke, die Wraithdrohnen haben … , obwohl Norrec wusste, dass Yerren kein Wraith war drängte sich ihm dieser zynische Gedanke regelrecht auf. Der Wraith atmete noch einmal tief durch und ging dann zu Lenn, da sie im Moment keine mentale Verbindung zuließ, musste er wohl oder übel mit ihr reden und er hoffte, dass sie ihm wenigstens zuhören würde.
Sihal warf Norrec immer wieder vorsichtige Blicke von der Seite zu. Sie hegte die schwache Hoffnung auf dem Gesicht des Wraith irgendeine Regung erkennen zu können, die ihr verriet wie schlimm es um Riven tatsächlich gestellt war. Frustriert musste sie feststellen, dass Norrec offenbar seine Gedanken und Gefühle weitaus besser verbergen konnte als Riven. Das Gesicht des Wraith wirkte völlig ausdruckslos, er schien alle Anwesen abschätzend zu mustern und in Sihal wuchs eine schreckliche Gewissheit. Die Art wie Norrec jeden Einzelnen musterte, jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie selbst hatte sich, kurz bevor Norrec zurückgekehrt war, das Analyseergebnis des Giftes angesehen und hätte beinahe vor Entsetzen laut aufgeschrien. Der Wraith war wohl zu den gleichen Schlüssen wie sie selbst gekommen und jetzt überlegte er offenbar, wen er auf dieses Himmelfahrtskommando schicken sollte. So wie sie Norrec bisher kennengelernt hatte, würde er sich ohne Zweifel selbst an der Jagd beteiligen und plötzlich huschte ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht. So aufmerksam, wie er jeden einzelnen in diesem Raum musterte, stellte er vermutlich gerade im Geiste eine kleine Gruppe zusammen, die ihm bei dieser Jagd behilflich sein sollte. Er wird versuchen eine Probe des Giftes zu bekommen., dieser Gedanke löste in Sihal eine unbeschreibliche Erleichterung aus, Norrec hatte von sich aus den Entschluss gefasst, das Leben des anderen Wraith zu retten und erstaunlicher Weise hatte sie keinen Zweifel an seinem Erfolg.
Aber dennoch wuchs in ihr der Wunsch Norrec auf seiner Jagd zu begleiten. Sie konnte einfach nicht länger ruhig hier herum sitzen und zusehen wie Riven langsam vor sich hin vegetierte. Bis vor ein paar Minuten war sie noch vollends mit Lenn oder Jared beschäftigt gewesen. Dankbar für diese Ablenkung, hatte sie so viel Zeit wie möglich mit dem Jungen und ihrer Schwester verbracht. Sie hatte sich sehr intensiv um Jared gekümmert und ihm mit Hilfe Otheyms seine Furcht genommen. Was Lenn betraf, war sie leider nicht so erfolgreich gewesen, denn ihre Schwester ließ noch immer keinen mentalen Kontakt zu und über die Geschehnisse der letzten Stunden wollte sie offenbar nicht einmal reden. Unwillkürlich schweifte ihr Blick in Lenns Richtung und wieder drängte sich ihr die Frage auf, was Norrec wohl getan hatte, um eine solche Reaktion ihrer Schwester zu provozieren. Seitdem der Wraith zurückgekehrt war, hatte Lenn ihn keines Blickes gewürdigt und so weit Sihal es beurteilen konnte, vermied ihr Schwester auch jedwede andere Form des Kontakts mit ihm. Lenn ignorierte ihn und Norrec spielte dieses Spiel mit, Sihal seufzte leise, denn dieses Verhalten passte zu keinem der Beiden. Aber bevor sie sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, bemerkte sie, dass Norrec langsam auf Lenn zu Schritt. Der Wraith hatte also einen Entschluss gefasst und da Sihal des Wartens überdrüssig war, beschloss sie die beiden von ihren eigenen Plänen in Kenntnis zu setzen.
Norrec blieb gut einen knappen Meter von Lenn entfernt stehen, kurz beobachtete er wie sie Liann immer noch sanft umarmte und die junge Frau zu trösten versuchte. Mit einem leisen Knurren zog er die Aufmerksamkeit der beiden Frauen auf sich: „Ich muss mit dir reden.“, seine Stimme klang fest und es schien ihr an jeglicher Emotion zu fehlen. Lenn schluckte und ließ Liann langsam los: „Was ist los?“, ihre Stimme war ein Spiegel ihrer eigenen Unsicherheit, denn sie wusste einfach nicht, wie sie mit dem Wissen über seinen absoluten Kontrollverlust und dessen Konsequenzen umgehen sollte. Sie starrte den Wraith nachdenklich an und einmal mehr fragte sie sich was sie wohl mehr erschreckt hatte. War es sein Eingeständnis des Kontrollverlusts oder ängstigte sie mehr der Umstand, dass sie seine Instinkte und die damit verbundenen Konsequenzen einfach akzeptiert hatte? Sie hatte sein instinktgesteuertes Verhalten als normal empfunden und ihr Mitleid für seine menschliche Beute hielt sich in engen Grenzen. Der Mangel an Mitgefühl für seine Beute hatte ihr schwer zugesetzt, sie hatte zwar etwas später erfahren was diese Männer Liann angetan hatten, doch allein dieser Umstand konnte ihre Empfindungen nicht rechtfertigen.
Mit Mühe gelang es ihr sich von ihren Gedanken zu lösen und sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. „ … deshalb schlage ich eine kleine Gruppe bestehend aus drei Mann vor. Auf diese Weise sind wir flexibel und angriffsstark genug, um uns im Notfall verteidigen zu können. Yerren und Otheym werden mich beglei … “, Norrec wurde von Sihals aufgebrachten Fauchen unterbrochen, er sah sie ruhig an, denn er wusste, was sie eigentlich beabsichtigte. „Ich will dich begleiten, es geht immerhin um Riven und er befindet sich schließlich nur meinetwegen in diesem erbärmlichen Zustand.“, die Stimme der Krashty klang frustriert und wütend zugleich. Lenn warf ihrer Schwester einen erschrockenen Blick zu, denn sie hatte gar nicht bemerkt, dass Sihal sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte und mehr noch, sie hatte Norrec nicht zugehört und deshalb keine Ahnung worüber die Beiden sich jetzt offenbar stritten. Der Wraith blieb erstaunlich ruhig und seine Stimme hatte wieder einen befehlsgewohnten Ton angenommen: „Ich kann deine Beweggründe nachvollziehen, doch ich brauche dich hier … “ „Aber … “, Sihal konnte und wollte ihre Frustration erst gar nicht vor Norrec verbergen, denn sie hoffte den Wraith auf diese Art und Weise zum Einlenken zu bewegen. Doch Norrec zeigte sich ob ihres kleinen emotionalen Ausbruchs völlig unbeeindruckt, nach wie vor sah er sie ruhig an und nicht einmal seine Stimme hatte ihren Tonfall geändert: „Während ich … du hast eine komplette Analyse des Giftes durchgeführt und mir so eine Menge Arbeit erspart. Du scheinst also einige beachtliche Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu besitzen.“ Sihal seufzte und warf Lenn einen kurzen hilfesuchenden Blick zu, ihre Schwester sah nur immer wieder fragend von einem zum Andern und als sie Sihals Blick spürte antwortete Lenn, bevor Sihal es konnte: „Meine Schwester hat wahrscheinlich mehr Zeit mit Riven in irgendwelchen Laboren verbracht als beim Kampftraining. Sihal … was Norrec zu sagen versucht ist, dass er hier jemanden braucht, der Pooky auf Herz und Nieren untersucht. Keiner von uns wäre in der Lage diese Untersuchung durchzuführen.“
Lenn hatte zwischenzeitlich doch den mentalen Kontakt zu Norrec gesucht, um herauszufinden was der Wraith eigentlich von ihr gewollt hatte. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass Norrec sogar ein gewisses Verständnis für ihre Beweggründe aufbrachte. Der Wraith machte ihr keinen Vorwürfe und sondierte auch nicht ihre Gedanken, er setzte sie lediglich über seine Schlussfolgerungen in Kenntnis. Aber dennoch nutzte sie die Zeit um sich kurz ein Bild über seine emotionale Verfassung zu machen, dies geschah instinktiv, denn ihr Geist sehnte sich nach der engen mentalen Verbindung mit dem Wraith … etwas, dass sie im Moment noch nicht bereit war zuzulassen. Lenn beobachtete wie Sihal sich frustriert mit der rechten Hand über das Gesicht fuhr: „Lenn … ich muss einfach gehen … ich schulde es ihm … “ „Lenya hat Recht. Wenn du Riven wirklich helfen möchtest, dann führe einen ebenso umfassenden Scann dieser kleinen Kreatur durch wie du es vorhin bei dem Gift getan hast. Denn wenn du es nicht tust, verlieren wir wertvolle Zeit.“, Norrecs Stimme klang ruhig aber bestimmt. Er musste nicht einmal Sihals Gedanken lesen, um zu wissen, dass seine Worte den gewünschten Effekt erzielt hatten.
Sihal seufzte leise und fügte sich schließlich den Anweisungen des Wraith. Obwohl sie über seine Entscheidung verärgert war, wusste sie doch gleichzeitig, dass er Recht hatte. Riven hatte ihr schon vor etlichen Jahren gezeigt, wie man mit den Systemen umzugehen hat und wie man eine vernünftige Analyse erstellt. Er hatte immer peinlichst darauf geachtet, dass sie die Ergebnisse sorgfältig dokumentierte und jeden noch so unwichtig erscheinenden Faktor mit auflistete. Anfangs hatte sie diese Vorgehensweise als lächerlich empfunden, doch im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit hatte sie begriffen, dass er in diesem Punkt Recht hatte. Einmal mehr fragte sie sich plötzlich, ob sie schon damals für den Wraith diese Gefühle gehegt und nur nicht wahrgenommen hatte, weil sie zu dem damaligen Zeitpunkt völlig auf Otheym fixiert war. Wieder spürte sie wie die Verzweiflung von ihrem Innersten Besitz ergriff, leise seufzend versuchte sie sich von dieser Frage zu lösen, denn sie hatte eine Aufgabe zu bewältigen. Zögernd suchte sie den Blickkontakt zu Norrec und nickte ihm dann zu. Dieser erwiderte ihr Nicken mit einem zufriedenen Lächeln und wollte sich gerade von den beiden Frauen abwenden, als Lenn ihn zurück hielt: „Warte … Es gibt da noch etwas, über das wir reden müssen.“
Der Wraith sah Lenn forschend an, jetzt war eindeutig nicht der richtige Zeitpunkt, um über seinen Kontrollverlust oder etwaige daraus resultierende Emotionen zu diskutieren. Lenn atmete einmal tief durch und erwiderte den Blick des Wraith: „Wenn wir schon gerade eine Lagebesprechung abhalten, dann können wir auch gleich über unseren Gast sprechen.“ Norrec ließ sich seine Erleichterung nicht anmerken und gab seiner Stimme bewusst einen ungeduldigen Unterton: „Falls du Liann meinst, so hat diese Frage sicherlich noch bis zu meiner Rückkehr Zeit.“ Lenn fauchte leise und ihre aufkeimende Wut brachte ihre blauen Augen zum funkeln: „Sie ist erschöpft und ich wette, dass sie sich gerne waschen würde … außerdem ist ihre Kleid völlig zerrissen und selbst wenn wir ihr Kleidung beschaffen, so kann sie sich doch nicht hier vor all den Männern umziehen!“ „Es ist viel zu gefährlich diesen Raum zu verlassen und … “, Norrec kam nicht mehr dazu seine Argumente aufzuführen, denn Lenns wütendes Schnauben unterbrach ihn: „Genau wie du werden wir in einer kleinen Gruppe zu meinem Quartier gehen. Dort kann sie sich waschen und meine Kleidung passt ihr eventuell auch.“ „Es könnte auch jemand ein paar Kleidungsstücke herbringen … “, bevor Norrec seinen Gedankengang zu Ende bringen konnte, ertönte aus Sihals Richtung ein leises Lachen. „Nein, in diesem Fall stimme ich Lenn voll und ganz zu. Außerdem könnte sich Liann hier wohl kaum vor all diesen neugierigeren Augen umziehen. Sadu und meine Schwester sind durchaus in der Lage mit unserem Gast in eines der Quartiere zu gehen und unbeschadet wieder zurückzukehren.“, die Belustigung in Sihals Stimme reizte Norrec zum Widerspruch, doch als er den entschlossenen Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Frauen sah, wurde ihm bewusst, dass er sie nicht von dieser Idee abbringen konnte. Wieder einmal verfluchte er die völlige Undiszipliniertheit der Krashty und deren impulsives Wesen, dass dem der Wraith ziemlich ähnlich war. Der große Unterschiede zwischen einem Wraith und einem Krashty bestand lediglich in dem Umstand, dass ein Wraith seinem Befehl Folge leisten würde. Die Krashty hingegen würden vermutlich warten bis er das Labor verlassen hatte, um dann ihren waghalsigen Plan in die Tat umzusetzen. Mit einem resignierten Knurren begriff er, dass es keinen Unterschied machen würde, ob er diesem Irrsinn zustimmte oder nicht: „Also gut. Aber sobald es gefährlich wird rufst du mich!“, er formulierte den letzten Satz absichtlich als Befehl und als er bemerkte, dass Lenn protestieren wollte, fügte er hinzu: „Ich werde in dieser Hinsicht keinen Kompromiss tolerieren. Du wirst mich beim ersten Anzeichen von Gefahr informieren und dich mit deinen Begleitern in Sicherheit bringen!“ Lenn lächelte ihn plötzlich amüsiert an: „Das Gleiche gilt dann aber auch für dich! Denn ich werde mir mit Sicherheit genau so große Sorgen um dich und dein Wohlergehen machen, wie du dir um meines.“ Der Wraith starrte Lenn fassungslos an, nickte dann aber und ging mit einem leisen Knurren auf Otheym zu. Diese Krashty trieben ihn langsam aber sicher in den Wahnsinn und einmal mehr fragte er sich wie es Riven gelungen war so lange mit ihnen zusammenzuleben ohne den Verstand zu verloren zu haben.
Kurz bevor Norrec Otheym erreicht gab er Yerren ein Zeichen, das dem Hybriden signalisierte, dass er sich zu den Beiden gesellen sollte. Wie erwartet folgte Yerren dieser Aufforderung ohne Protest und als er neben Norrec zum Stehen kam, unterbreitete der Wraith den Beiden seinen Plan. Yerren nickte knapp, doch Otheym starrte seinen Vater einfach sprachlos an. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Norrec ein solches Vertrauen in ihn setzen könnte und als der Wraith den erstaunten Gesichtsausdruck seines Sohnes bemerkte, zeigte er sich gewohnt arrogant: „Hast du eine Frage zu unserer Vorgehensweise?“ „Ähm … nein. Es … ich bin einfach nur erstaunt, dass du mich gewählt hast und nicht Dayan. Seine Erfahrung in solchen Situationen übertrifft meine bei Weitem.“, Otheym sah seinen Vater forschend an. Norrec knurrte leise, er war es nicht gewohnt seine Entscheidungen erklären zu müssen, doch ihm würde jetzt wohl nichts anderes übrig bleiben. Mit einem amüsierten Lächeln auf seinen Lippen gab er Otheym die gewünschte Antwort: „Ich kenne Dayans Fähigkeiten nicht, aber du hast dich als zuverlässig erwiesen. Ich vertraue auf dich und dein Können flexibel auf eine Situation zu reagieren.“ Otheym starrte seinen Vater verwirrt an, doch dann hellte sich seine Mine auf und er grinste den Wraith breit an: „Ich freue mich auch etwas mehr Zeit mit dir verbringen zu können!“ Nur mit Mühe gelang es Norrec seine Fassung zu bewahren und einmal mehr beschlich ihn das Gefühl in einem Tollhaus gelandet zu sein. Schweigend gab er den Beiden einen Wink und als er sah, dass Otheym seinen Worten offenbar noch etwas hinzufügen wollte, setzte er sich rasch in Richtung Labortür in Bewegung. Bevor er das Labor verließ, warf er Lenn noch einmal einen Blick zu, er beobachte kurz wie sich mit Sadu unterhielt und ihm offenbar von ihrem Plan erzählte. Der Krashty wirkte nicht sonderlich erfreut, doch Norrec kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er seiner Schwester helfen und sie falls notwendig auch beschützen würde. Mit einem leisen Knurren riss er sich von der Szene los und verließ zusammen mit Yerren und Otheym das Labor.
tbc.