Experimente in der „Camera silens"
Information, also ein Angebot von Reizen — körperlichen wie geistigen — , ist das Lebenselixier des Menschen. Er fühlt sich nur wohl, wenn seine Augen Farben, Figuren und Bewegungen sehen, seine Ohren Geräusche und sinnvoll geordnete Laute vernehmen, sein Tast-, sein Geschmacks- und Geruchsinn abwechslungsreich angesprochen werden, und sich sein Geist an solchem Mosaik der Eindrücke entfalten kann. Engt man auch nur einen Teil der verschiedenen Empfindungsmöglichkeiten ein, dann macht sich diese Freiheitsbeschränkung bald in psychischen Veränderungen bemerkbar.
Piloten, die bei monotonem Geräusch über der Wolkendecke in eine helle Einöde starren müssen, berichten, daß ihnen manchmal wunderliche Trugbilder vor den unbefriedigten Augen gaukeln und sie gelegentlich Lust verspüren, irgend etwas Abwegiges zu tun. Fernfahrer auf leeren nächtlichen Autobahnen spüren Aggression in sich aufwallen. Augenoperierte, denen tage- oder gar wochenlang die Augen verbunden sind, leiden unter quälender Frustration, versuchen oft wider die eigene Vernunft den schützenden Verband abzureißen und sind häufig unleidlich im Umgang mit dem Pflegepersonal. Ähnlich ergeht es Kranken, die längere Zeit bewegungslos liegen müssen, Patienten in Streckverbänden, an Dialyseapparaten oder in Isolierstationen. So ergeht es auch Strafgefangenen in Einzelhaft, Astronauten in Raumschiffen oder Arbeitern, die — zum Beispiel in der Photo-Industrie — in Dunkelheit eintönige Tätigkeiten zu verrichten haben.
Das alles ist zwar seit langem bekannt, doch sieht man genauer hin, steckt dieses Phänomen noch voller Rätsel. Denn auf den gleichen Reizentzug reagieren verschiedene Menschen keineswegs gleich. Wird der eine bei solcher sensorischen Vernachlässigung von Angst und Unruhe gepackt, verfällt der andere in Depression.
Bei ihrer Sudie nach Erklärungen hierfür tappen Psychologen und Psychiater noch im dunkeln. Darum lassen Forscher an vielen Instituten in Ost und West freiwillige Versuchspersonen einige Stunden oder Tage im Dunkeln verbringen. In einem schalldichten und schallschluckenden, lichtlosen Raum, Camera silens genannt, werden diese Probanden beobachtet, ihre körperlichen und seelischen Reaktionen gemessen, ihre Erfahrungen abgefragt und mit den Merkmalen ihrer Persönlichkeit in Beziehung gebracht.
Das Ziel dieser Forschung ist ein zweifaches: Einmal ist damit zu rechnen, daß die Resultate solcher Experimente mit der „sensorischen Deprivation" (so der Fachausdruck) grundlegende Auskünfte über noch unbekannte Zusammenhänge in der menschlichen Psyche geben werden; zum anderen steht zu erwarten, daß Psychiater lernen, mit welchen Mitteln einem Patienten, der vorübergehend oder dauernd unter Reizentzug leben muß, über die beschwerlichen Begleiterscheinungen hinweggeholfen werden kann.
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Die Kammer ist ein ungefähr zehn Quadratmeter großer Raum, in dessen Mitte ein bequemer, üppig gepolsterter, verstellbarer Liegestuhl steht. Uber dem Stuhl hängt ein Mikrophon. Wie jeder schalltote Raum ist auch diese Kammer an den Wänden mit großen Schaumstoffkeilen versehen, doch diese sind hier mit einem Stoffbezug verkleidet. So wirkt der Raum zwar leer, jedoch sonst nicht abnorm. Auch die darin befindlichen Lautsprecher und Infrarot-Lampen sowie die Infrarot-Fernsehkamera sind hinter der Verkleidung verborgen.
Wer an den Aufenthalt in einem schalltoten Raum nicht gewöhnt ist, der glaubt darin einen Druck auf den Ohren zu verspüren. Plötzlich hört man mangels äußerer Geräusche das eigene Blut zirkulieren, und wenn es einmal im Bauch grollt, dann ist dies ein bemerkenswertes akustisches Erlebnis.
Beim Experiment wird das Licht gelöscht. Die Dunkelheit ist vollkommen. Davon, daß er mit unsichtbarem infraroten Licht angestrahlt wird, merkt der Proband nichts. Die Spezialkamera aber erfaßt ihn, so daß ihn die Versuchsleiter an einem Fernsehschirm beobachten können.
Als ich mich in diese Abgeschiedenheit begeben hatte, nahm die Reizleere zunächst meine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, daß ich mich auf der bequemen Liege nicht richtig entspannen konnte. Aber nach fünf Minuten empfand ich die erzwungene Ruhe für Auge und Ohr sehr erholsam, einladend zum Meditieren, zum Nachdenken über vieles, wofür in der Hetze des Alltags wenig Zeit bleibt. So ganz freilich vermag man dieser Einladung nicht zu folgen. In merkwürdiger, keineswegs etwa unangenehmer Weise weichen die Gedanken dem ordnenden Bestreben der Konzentrationsversuche aus. Folgerichtigem Denken, so scheint mir, ist die Deprivation nicht gerade förderlich. Eher verführt sie zum sprunghaften Assoziieren von Bildern und Gedanken.
Dies ist offenbar der Eindruck der meisten Leute, die sich in einer Camera silens aufhalten. „Spielerisch wird das Denken", berichtet Burg hard Andresen über seine erste Sechs-Stunden-Sitzung, die er ^wie jeder andere Mitarbeiter an diesem Experiment in der Kammer verbracht hat. „Bald beobachtete ich Lichteffekte", erzählt der junge Forscher weiter, „die in Wirklichkeit ebensowenig in dem Raum vorhanden waren wie das Rauschen, das ich vernahm. Allmählich aber wurde die Sache langweilig. Ich habe mich dann vorwiegend mit der Zeit beschäftigt, wie gut oder schlecht ich die Dauer meines Aufenthaltes wohl abschätzen könnte; schließlich versuchte ich -zu träumen.
Ähnlich erging es Christiane Closs: „Zu Beginn war ich etwas erregt", erzählt die attraktive Psychologin, „aber dann habe ich die ungewohnte Stille — ich wohne in einer ziemlich lauten Gegend — als ungeheuer wohltuend empfunden. Meine Gedanken spielten um die Frage, was wohl andere Leute, die ich kenne, in der Kammer empfinden würden. Ich versuchte, mir Reize zu verschaffen durch Geräusche beim Bewegen auf dem Stuhl, durch Tasten oder mit der Atmung. Mich interessierte besonders die Veränderung des Körperschemas. Man beginnt, seine Proportionen anders als gewohnt einzuschätzen. Die Beine werden ganz dünn, fast scharf, wie Messer. Der Kopf scheint zu schrumpfen. Schließlich wurde ich müde und nel in einen leichten Schlaf."
Schlafen ist keineswegs typisch. Die meisten Menschen beginnen spätestens nach etwa drei Stunden sidi zu langweilen. „Das sollen sie auch", erklärt Versuchsleiter Kempe, „ich selbst fand es streckenweise ziemlich öde in dem Raum." Mit der Langeweile, so hoffen die Gelehrten, stellen sich dann auch die Verhaltensänderungen ein, die beobachtet werden sollen.
Für die Versuchspersonen laufen die sechs Stunden so ab: Zuerst 25 Minuten ungestörten Daseins in der Abgeschiedenheit, dann wird der Proband mit einer gedämpften Leuchtschrift oder über Lautsprecher zu bestimmten Tätigkeiten aufgefordert. Zum Beispiel soll er rhythmisch mit aem Finger trommeln oder eine bestimmte Zeitdauer abschätzen. Darauf folgen wieder 25 Minuten Stille. Danach wird eine Liste von Eigenschaftswörtern vorgelesen, von denen der Proband per Knopfdruck mitteilen soll, wie er in seiner gegenwärtigen Situation zu diesen FJgenschaften steht. Und so geht das weiter: Nach je 25 Minuten sensorischer Deprivation ein Test. Nach zwei Stunden ist Pause. Der Raum wird ein wenig beleuchtet, der Proband gibt Urin ab (er wird später auf biochemische Stoffe untersucht, sogenannte Streßindikatoren, die ein Maß für den erlebten Streß erkennen lassen). Alsbald beginnen die nächsten zwei Stunden Sitzung, die den ersten im Ablauf gleichen; abermals Pause und noch einmal eine zweistündige Sitzung.
Es kommt vor, daß jemand glaubt, die Dunkelheit und Stille nicht ertragen zu können. Er braucht dies nur den Versuchsleitern zu melden — sie sehen und hören ihn ja ständig — , und er wird aus dem Experiment entlassen....
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